••  Chronolytisches Studio ••   Das chrononautische Wissen in unserer Zeit
 
Kapitel 11:

Rotierende Tiplerzylinder und das Zerbrechen der Zeitmauer


So glaubt der amerikanische Mathematiker Frank J. Tipler, dass die Einsteinsche Allgemeine Relativitätstheorie die reale Erzeugung von Zeitschleifen oder anomalen Zeitverzerrungen auch im lokalen Maßstab erlaubt. Tipler orientierte sich an der Gödelschen Lösung für die Einsteinschen Gleichungen. Im Gödelmodell rotiert das gesamte Universum und verdreht Raum und Zeit, so dass zeitlich geschlossene Weltlinien entstehen.

Tipler nutzte diese Idee und zeigte, dass für derartige Raum- und Zeitverdrehungen nicht notwendig ein ganzes Universum benötigt wird. Er postulierte die Existenz einer Masse, die in starke Rotation versetzt, Raum und Zeit verwirbelt. Als Rotationskörper wählte er die Form eines Zylinders. In seiner ursprünglichen Arbeit wies er nach, dass ein unendlich ausgedehnter Zylinder in schneller Rotation die Lichtkegel in der Nachbarschaft so kippt, dass geschlossene zeitartige Kurven entstehen.

Der exakte Nachweis, dass ein rotierender Zylinder mit endlicher Ausdehnung geschlossene Weltlinien erzeugt, konnte nicht geführt werden. Aus den Tipler-Berechnungen lässt sich aber die plausible Vermutung ableiten, dass schon ein Körper in der Größenordnung eines Asteroiden genügt, um bei entsprechender Rotation die gewünschten Effekte zu erzielen. Für diese Möglichkeit spricht, dass die gravitativen Effekte von den weit entfernten Teilen des unendlichen Zylinders nur geringe Einwirkung auf die Bahn eines zeitreisenden Astronauten haben. Der angenommene Modellkörper hat eine Länge von ungefähr 160 km und einen Radius von 16 Kilometern . Dabei soll die Massendichte vergleichbar sein mit der Superdichte eines Neutronensternes. Bei einer unglaublichen Rotationsperiode von 0.0005 Sekunden soll sich dabei die Raumzeit so stark verdrehen, dass extreme Verzerrungen in der Zeitdimension auftreten. Im Prinzip wirkt der Zylinder wie eine rotierende Ringsingularität. Die Raumzeit krümmt sich um die Rotationsachse. Um den Tiplerschen Zylinder bilden sich bei Rotation mit fast Dreiviertel der Lichtgeschwindigkeit zwei ringförmige Bereiche aus, die durch Horizonte getrennt sind. Für den inneren Bereich berechneten die Physiker einen negativen Zeitverlauf. Ein kurzer Aufenthalt eines Raumschiffes in dieser Zone führt nach der Rückkehr aus dieser Zone zurück in die eigene Vergangenheit. Der zweite Bereich, der den ersten Bereich der Negativität umgibt, besitzt eine positive Zeitrichtung. Der Aufenthalt dort bedingt relativistische Zeiteffekte, d.h. die Zeit im äußeren Universum erscheint extrem beschleunigt. Erst nach der Rückkehr durch den zweiten äußeren Horizont finden sich für die Zeitreisenden in ausreichender Entfernung vom Tiplerzylinder normale Raumzeitverhältnisse . Die Berechnungen ergaben, dass Raumschiffe sich in der Nähe des Tiplerkörpers bei geeignetem Kurs um die Zeitachse herumwinden und sich dabei in der Zeitdimension frei bewegen. Bewegt sich das Raumschiff gegen die Rotationsrichtung, so gelangt es in die Vergangenheit, andernfalls reist es in die Zukunft. Beim Verlassen eines speziellen Pfades ist es dem Raumschiff bei der Rückkehr möglich, einen Zeitpunkt zu erreichen, der direkt vor dem Zeitpunkt seines Starts liegt. Ob die ankommenden Zeitreisenden ihren startbereiten Doppelgängern möglicherweise raten, die Reise nicht anzutreten, ist eine interessante Spekulation.

Abb. (Schematische Skizze der Tipleranordnung)

Interessant ist auch, dass eine funktionierende Zeitmaschine der Tiplerschen Art in der Nähe der Erde nicht notwendig beliebige Reisen in die Vergangenheit erlaubt. Zeitpunkte vor der Inbetriebnahme der Zeitmaschine sind als Zielzeit ausgeschlossen. Reisen in die Vergangenheit sind theoretisch nur bis zu dem Zeitpunkt möglich, an dem die Tiplersche Maschine ihre Arbeit und Existenz begonnen hat. Die tatsächliche Konstruktion einer Tiplerschen Zeitmaschine würde der Geschichte ein markantes Datum aufprägen. Die Geschichte teilt sich in die Zeit vor dem Bau der Zeitmaschine, V. d. ZM und, und die Zeit nach dem Bau der Zeitmaschine, N. d. ZM . Zeitreisen in Perioden der menschlichen Geschichte V. d. ZM sind mit der Tiplerschen Zeitmaschine theoretisch unmöglich. Das könnte eine Erklärung dafür sein, warum wir bisher noch keine Zeitreisenden kontaktiert haben.

Doch die entscheidende Frage wird sein, ob eine Tiplersche Zylinder-Maschine überhaupt durch eine technisch beliebig fortgeschrittene Zivilisation realisiert werden kann. Bisher sind kaum Zustände oder Formen von Materie bekannt, die die entstehenden Zentrifugalkräfte bei der theoretisch geforderten Rotationsgeschwindigkeit aushalten. Immerhin muss der Tiplerzylinder mit mindestens halber Lichtgeschwindigkeit rotieren, um die notwendigen Effekte zu erzielen. Für die gegenwärtige Technologie ist die Beherrschung solch extremer Zustände undenkbar. Sogenannte Tiplersche Anordnungen lassen sich eher in den astronomischen Beobachtungen massiver, kosmischer Objekte finden. Ein 1980 (im Jahr X V.d. ZM) im Krabben-Nebel entdeckter Pulsar besitzt die Rotationsperiode von 0.03 Sekunden, kommt also dem Tiplerschen Limit recht nahe. Man rechnet damit, dass die Bestätigung der Theorien über pathologische Raumzeitverwerfungen durch astronomische Beobachtungen und Existenznachweise nicht mehr fern ist. Es gibt auch Überlegungen, wie eine Tiplersche Anordnung in der lokalen Nähe der Erde konstruierbar ist. Dazu begibt sich ein Raumschiff in das Innere eines kleinen Asteroiden. Durch Verstärkung der bestehenden Rotation bildet sich eine ringförmige Singularität aus. Danach bleibt nur die Hoffnung, dass es dem Raumschiff irgendwie gelingt, entlang einer geschlossenen Zeitkurve schnell genug in den Raum der Zielzeit überzuwechseln, bevor es von ungeheuren Gezeitenkräften zerstört wird.

In den Diskussionen zum Tipler-Zylinder wurden Zweifel laut, die von Energiebetrachtungen und Materialproblemen ausgingen. So versuchte der Physiker N.J.Charlton nachzuweisen, dass Energieabstrahlung des Tiplersystems die Rotation unter den kritischen Wert dämpft, so dass keine Kausalitätsverletzungen auftreten können. Weitere Gegenargumente zeigten, dass kein bekanntes Material oder irgend eine bisher bekannte Zustandsform von Materie in der Lage wäre, den bei der ungeheuren Rotationsgeschwindigkeit auftretenden Zentrifugalkräften zu widerstehen. Außerdem ist die technische Beherrschung kosmischer Objekte wie rotierenden Asteroiden noch jenseits der vorhersehbaren Entwicklungen der nahen Zukunft. Selbst wenn die Theorie Tipler-Zylinder im planetaren Maßstab erlaubt, ist deren Kontrollierbarkeit mit der Handhabung von ungeheuren Energiemengen verbunden, weit jenseits aller technischen Spekulationen unserer heutigen Zeit. Begründet durch die zuletzt genannten Argumente ist der Tiplerzylinder keine allzu realistische Option für Zeitreisen.

Originalpublikation:
Tipler, Frank (1974). "Rotating Cylinders and the Possibility of Global Causality Violation". Physical Review D 9 (8): 2203–2206





#