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Kapitel 5:

Karten für die Navigation durch Raum und Zeit


Es ist klar, dass sich alle Lebewesen in der Zeit fortbewegen, indem sie dem Strom der Zeit in die Richtung Zukunft folgen. Wir sind daher alle Zeitreisende. Unsere Gegenwart verschiebt sich auf der Zeitachse unaufhaltsam vorwärts. Die grundsätzliche Frage ist, ob die stetige Vorwärtsbewegung der Gegenwart die einzig mögliche Art der Zeitreise ist, die von den Naturgesetzen für die Menschen vorgeschrieben ist.

In einer gewissen Weise ist es uns heute schon möglich, die entfernte Vergangenheit zu kontaktieren. Jedes astronomische Fernrohr funktioniert im Prinzip wie ein Zeitfernrohr. Das Licht, das vom Nachthimmel in das Fernrohr fällt, hat in der Regel eine lange Reise hinter sich. Wenn wir z.B. den Andromedanebel beobachten, sehen wir seinen Zustand vor zwei Millionen Jahre. So lange braucht das Licht, um den kosmischen Raum zu überbrücken und die Informationen von dort zu uns zu tragen. Je tiefer wir in den Raum blicken, desto weiter sehen wir in die Vergangenheit. Die Wege der Lichtstrahlen sind auch Wege durch die Zeit. Irgendwie ist die Zeit eine dem Raum verwandte Dimension.

Mit dem Beginn der wissenschaftlichen Methode im 16.Jahrhundert wurde die Idee geboren, die subjektive Fülle der Zeit auszublenden und Zeit rein geometrisch zu deuten. Zeit wurde also mathematisch untersucht, wobei das Verfahren für eine brauchbare Definition recht einfach war: man leihe sich vom Raum eine Dimension und nenne sie Zeit. Die Auffassung der Zeit als eine den räumlichen Dimensionen verwandte Dimension geht zurück bis ins Mittelalter. Der Mathematiker und Philosoph Nikolaus von Oresme war einer der ersten, die versucht haben die Zeit durch eine gerade Linie zu veranschaulichen. Bei seinen Überlegungen zur Theorie der Bewegung kam ihm die Idee, die räumliche und zeitliche Erstreckung einer gleichförmigen Bewegung durch ein Diagramm darzustellen. Soll die Bewegung eines Körpers, z.B. die Fahrt eines Wagens vom Ort A zum Ort B graphisch repräsentiert werden, dann ist nach Oresme so zu verfahren: Man markiere die Minuten der zeitlichen Dauer der gesamten Bewegung an dem unteren Rand eines Papierbogens in gleichen Abständen. Die zurückgelegten Kilometer werden senkrecht an der linken Seite des Papierbogens markiert. In dem so erzeugten Weg-Zeit-Koordinatensystem kann die Fahrt des Wagens von A nach B durch eine gerade Linie beschrieben werden.

Abb. ( Einfaches Weg-Zeit-Diagramm)

Die Weg-Zeit-Gerade stellt eine perfekt Beschreibung der Bewegung dar. Aus dem Diagramm lassen sich vielfältige Informationen ablesen. Ist eine bestimmte Zeit vorgegeben, so kann man aus dem Diagramm die entsprechende Entfernung ablesen. Es sei zum Beispiel die Zeitangabe t=30 Minuten vorgegeben. Man suche den Punkt auf Zeitgeraden, der die t-Koordinate 30 besitzt. Dann ziehe man eine Parallele zur Wegachse durch diesen Punkt. Diese Gerade schneidet die Raumzeitgerade in einem Punkt P. Zieht man nun durch diesen Punkt P eine Parallele zur Zeitachse, so trifft diese Gerade die Wegachse an der Stelle, die dem Wert 20 km entspricht. Nach 30 Minuten hat der Wagen auf seiner Fahrt von A nach B genau 20 km zurückgelegt. Diese einfachen Raum-Zeit-Diagramme wurden in der hervorkommenden Physik zu einem wichtigen Hilfsmittel.

Auch in unserer alltäglichen Welt hat die Verräumlichung der Zeit ihren Ausdruck gefunden. Wenn wir von Orten als nah oder fern sprechen, so meinen wir damit Orte, die zu erreichen eine kürzere oder längere Zeit erforderlich machen. D.h. wir errechnen eine räumliche Entfernung mit zeitlichen Angaben. Fragt man z.B. in einer Großstadt nach dem Hauptbahnhof, so erhält man oft die präzise Angabe: Zum Hauptbahnhof sind es noch 12 Minuten. Hier wird der zeitliche Verlauf eines Prozesses im Raum benutzt, um ein Längenmaß zu definieren. Im Prinzip nehmen fast alle unsere Zeitmesser als Maß für die vergangene Zeit eine beobachtbare Längenänderung. Ob Wasser-, Sand- , Pendel - oder Räderuhren, sie alle beruhen auf Abläufen, bei denen sich Längen ändern. Wir messen, um wie viel der Wasserstand gesunken ist, wie weit sich Radzähne und Zeiger bewegt haben, wie hoch ein Sandhaufen in einem Glas angewachsen ist. Und wir erkennen, dass wir die Zeit selbst überhaupt nicht messen, sondern eine Länge, eine räumliche Dimension. Wir benutzen unsere Uhren, um Länge in Zeit zu verwandeln. Ein Nomadenstamm in Sibirien benutzt als Einheit des Weges, die Strecke, die ein Mann hin- und herlaufen kann, während ein Kessel Wasser zum Kochen gebracht wird.

Auch in der Astronomie vermischen sich die Bezeichnungen für Raum- und Zeitmaße. Eine wichtige astronomische Längeneinheit ist das Lichtjahr; es ist die Strecke, die das Licht in einem Jahr zurücklegt. Zeit und Raum sind wie Spiegel, die sich gegenüber stehen. Alle Dinge der Welt liegen in den Grenzen von Raum und Zeit und sind in einem Gemisch beider unentwirrbar verwoben.

Im 16. Jahrhundert entwickelte der Philosoph und Mathematiker René Descartes analytische Verfahren für eine Beschreibung von geometrischen Beziehungen durch Zahlenverhältnisse. Die kartesische Interpretation bestand darin, jedem Punkt auf einer Geraden eine reelle Zahl zuzuordnen. Die reelle Zahlenachse wurde so die Repräsentation einer Dimension, die Dimension der Länge.

Abb. (Zahlengerade)

Die Breite kann ebenso als eigenständige Dimensionen aufgefasst werden. Länge und Breite spannen zusammen die zweidimensionale Ebene auf. Analog werden Punkte im Raum durch drei Koordinaten, d.h. durch drei Zahlen, beschrieben.

Abb. (3-D-Koordinatensystem)

Der Anschauungsraum ist in seiner mathematischen Struktur daher dreidimensional. Mit dieser eindeutigen Zuordnung zwischen Zahlen und Punkten ist es im Prinzip möglich, geometrische Verhältnisse in Zahlenverhältnisse zu übersetzen und umgekehrt. Geometrie lässt sich nach Descartes also mit algebraischen Methoden betreiben. Damit war aber auch der Weg frei für die logisch einwandfreie Definition von vier, fünf oder mehr Dimensionen. Ein Punkt im fünfdimensionalen Raum wird eindeutig durch fünf Zahlen festgelegt. Diesen fünf Zahlen entsprechen fünf voneinander unabhängige Koordinaten auf fünf senkrecht zueinander stehenden Koordinatenachsen oder Dimensionen. Die menschliche Anschauung ist damit überfordert, aber für die logisch einwandfreie und analytische Darstellung der neuen höherdimensionalen Geometrie ist dies auch nicht notwendig.

Die elementaren Objekte des 3-D-Raumes, wie etwa das Tetraeder, der Quader, der Zylinder oder die Kugel, lassen sich analytisch ohne Probleme auf höherdimensionale oder n-dimensionale Geometrien verallgemeinern. Das Verständnis von Logik und der analytischen Verfahren wird von den Mathematikern höher eingestuft als die gewohnte Anschauung oder die euklidische Denkweise.

Durch den Mathematiker Bernhard Riemann wurde die n-dimensionale Geometrie im 19. Jahrhundert auf eine noch höhere Stufe der Abstraktion gehoben. Nach Riemann müssen sich die Dimensionen nicht notwendig auf den Sinnesraum beziehen, eine Dimension kann sich logisch auf irgendeine abstrakte Größe beziehen. Die Mathematiker wählten die Bezeichnung n-dimensionale Mannigfaltigkeiten, um die endgültige Loslösung von den drei euklidischen Anschauungsdimensionen zu vollziehen. Eine n-dimensionale Mannigfaltigkeit kann sich zum Beispiel auf Wirtschaftsgrößen, verschiedene physikalische Größen oder überhaupt jede Zusammenfassung von n Parametern beziehen, die sich durch reelle Zahlen beschreiben lassen.

Als die Mathematiker die Denkmöglichkeit von vier und mehr Dimensionen bestätigten, entstand sogleich die Frage, ob die Welt als Ganzes höherdimensional (n >3) strukturiert ist. Unsere indirekte Wahrnehmung von der Welt wird durch neue Messgeräte, Messergebnisse und Denkkonstrukte ständig erweitert. Möglicherweise lassen sich die Fakten und Daten über unsere Welt widerspruchsfrei nur in einem n-dimensionalen Modell mit n größer als drei abbilden.

Seit die logische Existenz n-dimensionaler Räume bewiesen war, wurde auch von Nicht-Mathematikern über die sogenannten Mehrdimensionen spekuliert. Einige Spiritisten siedelten in der 4. und höheren Dimensionen Geister und das Jenseits an. Die zusätzlichen Raumdimensionen sind für unsere Sinne nicht zugänglich, bilden aber ein eigenes Existenzreich. Dort liegen die Jenseitsreiche, in denen die geistigen Wesen, die Seelen, Engel und Dämonen ihren Ort haben. Immer wieder fanden sich Phantasten, die den Zusatzdimensionen merkwürdige und unglaubliche Eigenschaften zuschrieben. Der berühmte Astrophysiker Friedrich Zöllner gelangte aufgrund seiner Untersuchungen zu der damals höchst ungewöhnlichen Hypothese, dass die materielle Welt in einer übergeordneten 4. Dimension enthalten ist. In den paraphysikalischen Ereignissen, wie z.B. das Verschwinden von Gegenständen und deren Wiedererscheinen in verschlossenen Räumen, sah Zöllner die praktische Bestätigung der realen Existenz einer vierten Dimension. Dass er bei seinen Experimenten mit dem englischen Spiritisten und Medium Henry Slade zusammenarbeitete, hat ihm bei seinen Fachkollegen Hohn und Spott eingetragen. Mit dem anerkannten Wissenschaftsprogramm seiner Zeit waren spiritistische Experimente nicht vereinbar.

Erst mit der Einsteinschen Relativitätstheorie wurden den vielen Überlegungen zu einer vierten Raumdimension der Boden entzogen. Die Idee Einsteins basiert auf dem Modell einer Union von drei Raumdimensionen und einer vierten, rein zeitlichen Dimension. In der allgemeinen Bildung des modernen Menschen ist die Zeit als vierte Dimension anerkannt. Alle Phänomen und Prozesse, die in Zeit und Raum existieren, werden von den Physikern im vierdimensionalen Raumzeitkontinuum zusammengefasst. Jeder wissenschaftliche Versuch die Welt im Ganzen darzustellen beginnt zunächst mit einem mathematischen Modell des vierdimensionalen Raumzeitkontinuums. Die Raumzeit setzt sich aus Ereignisse zusammen, deren jedes durch vier Zahlen beschrieben ist, drei räumliche Koordinaten x, y, z und eine zeitliche Koordinate t.

Die Welt ist in diesem Sinne auch ein Kontinuum, denn zu jedem Ereignis mit den Werten x , y, z und t gibt es beliebige benachbarte Ereignisse x , y, z und t die sich von dem ersten Ereignis beliebig wenig unterscheiden. Die Idee der in Zeit und Raum kontinuierlichen Weltlinie war geboren. Wir alle leben und bewegen uns auf Weltlinien. Aufbauend auf der Idee des vierdimensionalen Kontinuums, dem Relativitätsprinzip und der universellen Konstanz der Lichtgeschwindigkeit entwickelten Albert Einstein, Herbert Minkowski und viele andere die physikalischen Grundbegriffe der Relativitätstheorie.

Durch die psychologische Unfähigkeit, vierdimensionale Verhältnisse direkt zu begreifen, sind wir gezwungen, drei- oder zweidimensionale Modelle zu entwickeln. Als die Eigenschaften nicht-euklidischer Räume untersucht wurden, nahm man anschauungsmäßig Zuflucht zu zweidimensionalen sphärischen Oberflächen. Ein ähnliches Verfahren kann uns helfen, das vierdimensionale Kontinuum in einem vereinfachten Modell zu erfassen. Die Raumkomponente wird durch eine Linie, die x-Achse repräsentiert, während eine zur Ebene senkrechte Achse die Zeitdimension symbolisiert. Für irgend ein Ereignis E in der Raumzeit wird der Nullkegel dieses Ereignisses erzeugt durch alle theoretisch erlaubten Lichtsignale, die in E ankommen oder weglaufen. Als absolute Zukunft von E wird die Menge der vierdimensionalen Punkte innerhalb des Nullkegels der Zukunft bezeichnet. Entsprechend bildet die absolute Vergangenheit von E das Innere des Nullkegels der Vergangenheit. Alle anderen Raumzeitpunkte, die in Bezug auf E außerhalb der beiden Nullkegel liegen, bilden das absolute "Nirgendwo". Für irgendein anderes Ereignis F existiert ein zeitartiger Zusammenhang, wenn beide Ereignisse E und F durch eine Linie verbunden werden können, die innerhalb des Nullkegels verläuft. Solche Linien heißen zeitartige Weltlinien. Weltlinien, die genau auf dem Nullkegel verlaufen, heißen Nulllinien. Ereignisse F, die in Bezug auf E außerhalb der Nullkegel liegen, heißen raumartig zu E. Sind zwei Ereignisse E und F raumartig zueinander, so ist es unmöglich, dass sich zwischen ihnen physikalische Wechselwirkungen ereignen können.

Abb. (Lichtkegel)

Die Bezeichnung Zukunftskegel und Vergangenheitskegel sind darin begründet, dass wir von E aus nur Ereignisse kausal beeinflussen können, die im Zukunftskegel liegen, während uns in E nur Signale erreichen können, die aus dem Vergangenheitskegel kommen. Trotz der von der Relativitätstheorie geforderten Relativität der Zeit, bleibt die zeitliche Ordnung bei Wechsel des Bezugssystems unberührt. Obwohl einem Ereignis in gegenseitig sich bewegenden Bezugssystemen verschiedene Zeitparameter zugeschrieben werden, bleibt die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse in beiden Systemen erhalten. Dies folgt bekanntlich dem Prinzip, dass sich keine Kausalwirkung mit Überlichtgeschwindigkeit fortpflanzen kann.

Die Physik hat über Jahrhunderte einen Atlas der uns vorgegebenen Raumzeit entwickelt, der viele brauchbare Karten und technisch verwertbare Diagramme enthält. Es hat sich aber immer wieder gezeigt, dass die Abbildungen nicht ausreichen, unsere Raumzeit vollständig zu beschreiben. In der aktuellen Ausarbeitung der Allgemeinen Relativitätstheorie zeigen sich Modelle mit derart komplizierten Verhältnissen von Raum und Zeit, dass sie sogar als pathologisch bezeichnet werden.

Prozesse, in denen die Zeit anhält, sich beschleunigt, sich dehnt oder umkehrt sind heute Gegenstand ultramoderner Naturforschung. Die Existenz zeittransformierender Prozesse ist mit der generellen Anerkennung der Allgemeine Relativitätstheorie und ihren Folgerungen allgemein akzeptiert. Es stellt sich hier die Frage, ob die Zeit durch Gravitationswirkungen so verformen werden kann, dass die kausale Anordnung der Ereignisse zerbricht. In den modernen Weiterführungen der Allgemeine Relativitätstheorie wird eine derartige Fragestellung nicht mehr ausgeschlossen.

Was den Physikern einiges Kopfzerbrechen bereitet, ist die Existenz von exakten Lösungen der Einsteingleichungen, die in sich geschlossene, zeitartige Routen durch die Zeit zulassen. Auf diesen geschlossenen Pfaden durch die Raumzeit, ist es einem Objekt möglich, seine eigene Vergangenheit zu erreichen. Vereinfacht ausgedrückt, es existieren Routen im Universum, die es einem Raumschiff erlauben, an einem Ort anzukommen, bevor es dort abgeflogen ist. Unter den Physikern war lange Zeit unbestritten, dass das Kausalitätsprinzip, der eindeutige Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, von der Natur nicht verletzt wird. Daher fragen sie sich besorgt, ob die Relativitätstheorie stark genug ist, um mit ihren pathologische Raumzeiten fertig zu werden. Mit dem Existenzbeweis zirkulärer Zeitrouten würde die Theorie möglicherweise die Zerstörung ihrer eigenen Grundlage voraussagen. Wie wir heute wissen, ist das Ende einer Theorie kein endgültiger Zusammenbruch, den man um jeden Preis vermeiden muss. Denn bisher wurde noch jedes Weltbild gestürzt oder revolutioniert, um den Weg für eine neue, umfassendere Sicht der Welt freizumachen. Als Kolumbus Amerika entdeckte, besaß er noch keine Karten über das neue Territorium. Es ist durchaus denkbar, dass die erste praktisch durchgeführte Zeitreise, in welcher Form auch immer, die Physiker dazu zwingt, das Kausalgesetz über Bord zu werfen.

Bei einer Revolution des allgemein-relativistischen Begriffsgebäudes könnte sich dann herausstellen, dass das Kausalgesetz nur der Grenzfall einer übergeordneten, holistischen Gesetzmäßigkeit ist, die multiple Zeitformen integriert. Mit der Erfindung der Zeitmaschine würden sich die Physiker in ein neues Territorium wagen, dessen Perspektiven ohne die strenge Gültigkeit des Kausalgesetzes unermesslich reichhaltig sind.




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