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Kapitel 7:

Gödelkosmos und merkwürdige Zeitkurven


Es ist das Verdienst des Mathematikers Kurt Gödel als erster gezeigt zu haben, dass unter bestimmten, sehr speziellen Voraussetzungen Weltlinien in einem Modell des Universums auftreten können, die unsere gewohnten Vorstellungen von der Zeitordnung zerstören. Wie er in einem Papier von 1949 nachwies, steht die Existenz von Weltlinien, die zeitartig in sich zurückkehren nicht im Widerspruch zur Allgemeinen Relativitätstheorie, zu einer Theorie, die von der modernen Physikergemeinde als das beste Werkzeug zur Untersuchung von allgemeinen Raumzeiten anerkannt wird. Gödel's Ausgangsüberlegung war, wie der theoretisch mögliche Zusammenbruch des Kosmos in einem finalen Kollaps verhindert werden kann. Er fand heraus, dass die zusammenziehenden gravitativen Kräfte durch Zentrifugalkräfte des Kosmos ausbalanciert werden, wenn sich der Kosmos dreht. Ein rotierendes Universum besitzt keine ausgezeichnete spezielle Rotationsachse, das Zentrum der Rotation liegt, wie das Zentrum der Expansion, überall. Jeder Beobachter, gleichgültig an welchem Ort, findet sich im Zentrum der kosmischen Rotation. Die rotierenden Massen des Kosmos sind über die Einsteinschen Gleichungen mit Raum und Zeit gekoppelt. Daher verdrehen sie die Raumzeitbereiche im großen Maßstab. Es existieren nun in diesem Modell besondere Weltlinien, die die Eigenschaft haben, dass sie sich in der verdrehten Raumzeit schließen.

Gödel fand heraus, dass Lichtkegel, die einen Bereich zeitartiger Kurven begrenzen, durch das rotierende Universum in Richtung der Rotation gekippt werden. Ihre Verformung ist so angelegt, dass Teile des zukünftigen Lichtkegels einer bestimmten Region sich mit den Teilen des Vergangenheitslichtkegels einer benachbarten Region überschneiden. In genügend großem Abstand von der Rotationsachse kippen die Lichtkegel so, dass Wechselwirkungen zwischen Zukunftskegel und Vergangenheitskegel jeweils zweier benachbarter Lichtkegel stattfinden können. Ein Körper, der sich entlang einer solchen ausgezeichneten Linie bewegt, wird in die Nähe von Raumzeitpunkten seiner Vergangenheit zurückkehren können, obwohl er sich in seiner Eigenzeit nur vorwärts in die Zukunft bewegt hat. Die Zeitreise vollzieht sich durch eine zukunftsorientierte Vorwärtsbewegung der "Zeitreiseobjekte" in der Raumzeit entlang einer zulässigen Weltlinie des Gödelkosmos. Ein "Reisender im Gödelkosmos" ist daher in der Lage, sich durch die spezielle Wahl seiner Weltlinie so zu bewegen, dass er in die Nähe von Ereignissen seiner entfernten Vergangenheit gelangt.

Der Gödelschen Zeitreise geschieht als einfache Raumfahrt. Als Zeitmaschine funktioniert hier der gesamte Gödelkosmos. Aus der Theorie folgt weiter, dass diese Raumfahrt entlang der zeitartig geschlossenen Weltlinie fast um das ganze Universum herumführt. Vereinfacht lässt sich sagen: wenn Du im Gödelkosmos weit genug fährst, kommst Du vor Deiner Abfahrt wieder zurück.

Der gesunde Menschenverstand muss solche geschlossenen Zeitlinien als äußerst paradox empfinden. Der Philosoph und Physiker Hans Reichenbach hat die Situation einer Zeitschleife in einem Gedankenexperiment auf irdische Maßstäbe übertragen Auch er hält die Ereignisse, die mit einer in sich geschlossenen, zeitartigen Weltlinie verbunden sind für höchst sonderbar, aber prinzipiell nicht für unmöglich.

Abb. Weltlinien I und II

Die Weltlinien I und II seien die Weltlinien je eines Menschen unserer Raum-Zeit. Der Philosoph Hans Reichenbach erläutert dies so :
"Wir begegnen eines Tages einem Menschen, der uns erklärt, wir seien sein früheres Ich. Er kann uns auch genaue Auskünfte über unseren Zustand geben, berichtet etwa völlig zutreffend, was wir gerade denken. Er prophezeit uns auch unser ferneres Schicksal, darunter sogar, dass wir eines Tages selbst in der Lage sein werden unserem früheren Ich zu begegnen. Wir dagegen halten den Menschen für geisteskrank und gehen weiter. Dasselbe denkt unser Genosse I, der uns zustimmt. Der fremde Mensch geht mit einem überlegenen Lächeln weiter; wir verlieren ihn aus unserem Gesichtskreis, ebenso den Genossen I, und vergessen beide. Nach Jahren treffen wir einen jüngeren Menschen, den wir plötzlich als unser früheres Ich erkennen. Wir sagen ihm wörtlich dasselbe, was damals jener ältere Mann zu uns gesagt hat, er widerspricht uns und hält uns für geisteskrank - wir sind diesmal die überlegenen und gehen weiter. Auch den Genossen I sehen wieder, in genau demselben Alter wie damals; er lehnt jedoch jede Bekanntschaft mit uns ab und hält zu dem jüngeren Ich. In der Folge bleiben wir jedoch mit ihm auf dem gleichen Wege, während das jüngere Ich aus dem Gesichtskreis kommt. Von da ab läuft alles weitere Leben normal. "

Diese Beschreibung einer seltsamen Selbstbegegnung sieht auf den ersten Blick recht harmlos aus. Doch bei einem genaueren Durchdenken der Situation erscheinen Probleme, die anerkannte Grundsätze der Wissenschaft ins Wanken bringen. Die Anordnung der Ereignisse ist kreisförmig, d.h. es ist im Prinzip möglich, dass eine Wirkung zeitlich vor ihrer eigenen Ursache liegt. Wir verändern das Gedankenexperiment an einem entscheidenden Punkt. Das Ich, das in der Zeit zurückgeht, kann in seiner eigenen Vergangenheit Handlungen vornehmen, die genau die später eintretenden Ereignisse verhindern, welche die Reise in die Vergangenheit in Gang gesetzt haben. Das ältere Ich könnte sein jüngeres Ich, unter Umständen mit Zwang, davon zu überzeugen, keine Reise in die Vergangenheit zu unternehmen, auch wenn sich in der Zukunft eine verlockende Gelegenheit dazu bieten sollte.

Dieses Gedankenexperiment rüttelt fest an unseren gewohnten Vorstellungen von Ursache und Wirkung. Eine Selbstbegegnung der geschilderten Art könnte die zeitliche Reihenfolge zweier Ereignisse völlig zerstören. Schließt sich eine Weltlinie, so erweist sich die lokale Zukunft als Teil ihrer eigenen Vergangenheit. Die Zeit hätte damit ihre objektive Eigenschaft verloren, die Dinge nach Ursache und Wirkung geordnet wiederzugeben. Das Reichenbachsche Beispiel regt zweifellos zu weiteren Gedankenexperimenten an, die mit der Physik und Mathematik des Gödelkosmos verträglich sind.

Einen Mensch, der auf einer geschlossenen Weltlinie aus der Zukunft zurückkehrt und sich selbst begegnet, haben wir zwar schon in einem erfolgreichen Hollywood-Film gesehen, aber wir wären sehr überrascht, wenn es uns wirklich passieren würde. Einstein war von der Gödelschen Analyse zunächst ebenso überrascht, wie alle anderen normal denkende Menschen auch. Er vermutete hoffnungsvoll, dass sich physikalischen Gründe finden lassen, die eine Selbstüberschneidung von Weltlinien verhindern, so dass keine paradoxe Selbstbegegnungen auftreten können. Tatsächlich erfüllt das aktuelle Universums die physikalischen Voraussetzungen für das Gödelsche Modell in keiner Weise.

Doch das Problem liegt tiefer. Was den Physiker mehr Sorgen macht, ist die Tatsache, dass die Einsteingleichungen Modelle mit geschlossenen zeitartigen Kurven im Prinzip zulassen. Nach und nach wurde klar, dass die Gödelsche Lösung kein exotischer mathematischer Einzelfall war. Andere Modelle zeigten in den Jahren nach 1949, dass die Möglichkeit für bizarre Zeitverhältnisse irgendwie in den Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie verankert ist. Theoretisch ist sogar denkbar, dass moderne Computersimulation mit realistischen Modellen der Raumzeit zeigen, dass die gegenseitige Umkreisung von zwei Schwarzen Löchern geschlossene Zeitkurven vom Gödeltyp erzeugt, die außerhalb der Ereignishorizonte existieren.

Zur gegenwärtigen Zeit wissen die Theoretiker nicht, wie sie die theoretische Existenz von geschlossenen zeitartigen Kurven deuten sollen. Einige Theoretiker sind der Meinung, dass die geschlossenen zeitartigen Kurven für das reale Universums tabu sind, da sie gegen das allgemein anerkannte Kausalitätsprinzip verstoßen. Doch niemand kann dieses Tabu logisch begründen. Es hat eher den Charakter einer emotionalen Abneigung. Noch wissen die Astrophysiker nicht genau, ob Modelle, die geschlossenen zeitartige Kurven zulassen, eine praktische Bedeutung haben. Wenn aber geschlossene, zeitartige Kurven, in welcher Form auch immer, real in unserem Universum existieren, dann eröffnen sie verlockende Aussichten auf potentielle Zeitreisen. Wie wir seit Gödel wissen, ist "Vorwärts in die Vergangenheit oder Zurück in die Zukunft" kein reines Phantasieprodukt, das nur für Hollywood interessant wäre, sondern eine Option der Natur, die uns scharfsinnige Logik und höchste wissenschaftliche Kreativität vermittelt hat.

Originalpublikation: Kurt Gödel:
An Example of a New Type of Cosmological Solutions of Einstein’s Field Equations of Gravitation. Rev.Mod. Phys. 21, 3 (Jul. 1949), 447–450




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